Foto - Journalismus in der Weimarer Republik

In ihrer Einführung zum Ausstellungskatalog "Fotografie in deutschen Zeitschriften 1924- 1933" konstatiert Ute Eskildsen bei der fotohistorischen Aufarbeitung dieses Themenbereichs eine mangelnde Berücksichtigung des Kontextes, in dem die journalistische Fotografïe steht (1). Das scheint umso erstaunlicher, als gerade der in jenen Jahren zu beobachtende, tief greifende Wandel bei der Verwendung der Fotografie in den Illustrierten Zeitungen ohne weiteres im Zusammenhang mit parallel dazu stattfindenden Strukturveränderungen in Presse und Literatur gesehen werden kann, ja letztlich gesehen werden muß.

Der veränderte Einsatz der jornalistischen Fotogratie lässt sich als Umstrukturierungsprozess von der bildlichen Illustration hin zur bildlichen Dokumentation beschreiben. Neben die bekannte Pressefotografie tritt die elaborierte Fotoreportage (2). Sie ist Kern des modernen Fotojournalismus. In der Form der Fotoreportage gewinnt das Bild innerhalb der Illustrierten Zeitung eine neue, weitgehend autonome Funktion.

Die veränderte Stellung der Fotografie in den Illustrierten ist von durchschlagendem und nachhaltigen Erfolg. Der neue Fotojournalismus, in Millionenauflage publiziert, ist neben dem Film, der ebenfalls ein Millionenpublikum in die Kinos zieht, mitverantwortlich für den massiven Einbruch der Bilder in das Leben breiter Schichten. Damit vollzieht sich in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg ein deutlicher Umbruch der bis dahin vorrangig literarischen Kultur zu einer vorrangig visuellen Medienkultur; von der bürgerlichen Bildungskultur zu dem, was der zeitgenössische Beobachter Siegfried Kracauer die "Angestelltenkultur" nennt, in der Annahme, dass diese neu aufkommende soziale Schicht Adressat und Träger dieses Vorgangs ist (3).

Stadt der Arbeit, Münchner Illustrierte Presse, Jahrgang 1930, Heft 35 Fotograf: Felix H. Mann

Auch Jürgen Habermas sieht in seiner Studie "Strukturwandel der Öffentlichkeit" beim tendenziellen Verfall einer literarischen Öffentlichkeit, den Kulturkonsum bestimmt von nicht-verbalen Mitteilungen oder solchen, die, wenn nicht überhaupt in Bild und Ton übersetzt, durch optische und akustische Stützen angereichert sind, und die in mehr oder minder großem Maße die klassischen Formen der literarischen Produktion verdrängen (4).

Ein Phänomen dieser Auflösungserscheinungen in Form von Umverlagerung und Substitution der traditionellen bürgerlich-literarischen Kultur stellt m.E. die in der Weimarer Zeit sehr geschätzte und erfolgreiche journalistisch-literarische Reportage dar. Mit ihrem plastisch-dokumentarischen Darstellungsstil markiert sie auf literarischer Ebene den Versuch, mit den, die filmisch-fotografischen Medien charakterisierenden, und für deren Erfolg wohl maßgebenden Momenten des Bildhaften, Anschaulichen, dem gleichzeitig als faktisch und authentisch Verbürgten, zu arbeiten.

Die journalistisch-literarische Reportage der 20er Jahre siedelt sich in einem Zwischenbereich an, jenseits von Kunstliteratur und diesseits von bloßer Presseinformation. Sie ist keine tagesaktuelle Berichterstattung. Sie beansprucht weiterreichende Gültigkeit, die aber nicht durch einen überzeitlichen Kunstanspruch legitimiert werden soll. lm Gegenteil, sie ist der "Zeit in der man lebt" (E. E. Kisch) radikal verpflichtet - in einem recht präzise zu benennendem Selbstverständnis, wie sich in der Folge zeigen wird - und darin begründet sich ihre Gültigkeit.

Auch die Fotoreportage bewegt sich in diesem Zwischenbereich. Das Foto genügt sich nicht selbst, es will nicht Kunstwerk sein, aber es ist auch nicht bloßes Mittel zum Zweck, Beleg oder Beweisstück stattgehabter Ereignisse. Die Fotoreportage will Bedeutung vermitteln, will informieren, aber nicht in abgeleiteter Form, wie das Pressefoto, sondern durch semantische Eigenbezüglichkeit.

Das vereinzelte Pressefoto ist dem Zwang der Aktualität gänzlich unterworfen, es vermag - mit wenigen Ausnahmen - dann zu fesseln, wenn das fotografierte Ereignis fesselnd ist (5). Dagegen hat die Fotoreportage, losgelöst vom Druck der Tagesaktualität, die Freiheit, einem bis dahin unbeachteten Thema durch ihre fesselnde Gestaltung Aufmerksamkeit zu verschaffen, die Aufmerksamkeit auf den von ihr gesehenen Wirklichkeitsaspekt zu konzentrieren. Konsequenterweise wird elaher ein solches Thema der persönlichen, subjektiven Sicht eines Fotografen anvertraut. Er steht dem Bildredakteur als Garant dafür, daß die Konstruktion der Fotoreportage in ihrer Doppelfunktion als Dokument und als ästhetisches Ereignis gelingt. Sein Name wird besonders genannt, wird zum Markenzeichen, gleich dem seines journatistischen Kollegen. Aufgrund der Doppelfunktion vermag die Fotoreportage ein Thema zu kreieren: Denn, wo die Kamera sie aufsucht, gewinnt die Welt Bedeutung.

Was Erhard Schütz für die journalistische Reportage formuliert, gilt ebenso für die Fotoreportage: "Reportage und Reisebericht sind Formen mit primär informierender Funktion, in denen sich jedoch mit fortgeschrittener Entwicklung bewusst ästhetische Formierungselemente sich durchsetzen und zu einem, die intendierte Information suggestiv und emotiv entscheidend prägenden Faktor werden. (...) An dieser ästhetischen Zurichtung von Wirklichkeit in präformierter Erfahrung und in formierender Wiedergabe sind wichtige Elemente gesellschaftlicher Bewußtseinsbildung analysierbar" (6).

Hier läßt sich in den 20er Jahren nun ein Wunsch nach interpretationsloser, unverfälschter Berichterstattung über den zeitgenössischen Alltag, nach Information über die neue Weimarer Wirklichkeit feststellen. Die war zunächst verbunden mit der Tatsache des verlorenen Krieges, den tiefgreifenden Veränderungen des gesamten Lebenszusammenhangs in seiner Folge, der erstmaligen und schockierenden, auch demütigenden, Erfahrung einer umfassenden gesellschaftlichen Desorientierung. Es wurde zwingend, neue Perspektiven zu finden, unter denen die neuen Verhältnisse erfassbar und erfahrbar werden konnten.

Dieser Forderung fühlten sich insbesondere die Gruppen verpflichtet, die berufsmäßig von der Vermittlung von Wirklichkeit lebten: Wissenschaftler, Journalisten, Berufspolitiker, Schriftsteller und besonders die technische Intelligenz (7). Die tendenziell liberal-republikanisch Gesinnten unter ihnen hatten sich endlich nach dem verlorenen Krieg, den revolutionären Wirren der Nachkriegszeit, dem Abbau der Hoffnungen auf grundlegende Veränderung der bestehenden Verhältnisse, bereit gefunden, sich auf den "Boden der Tatsachen" zu stellen und mit "mittleren Lösungen" zu operieren (8).

Man hoffte nun, dass Pragmatismus, Sachlichkeit und maßvolles Agieren der Republik zu Stabilität verhelfen könnten. Man sah den Klassenkampf als vermeidbar an, wenn über eine rationell organisierte Planungsgesellschaft eine Steigerung der industriellen Produktion als Basis für vernünftigen Fortschritt zu erreichen wäre. Man setzte auf das Vorbild Amerika, wo der Burgfrieden zwischen Kapital und Arbeit zu steigenden Löhnen, einem rapiden Anwachsen des Konsums und zu einer ungeahnten wirtschaftlichen Prosperität geführt hatte. Hier war jene Gleichzeitigkeit von Produktion, Kultur und Lebensgefühl erreicht, nach der man sich in Europa sehnte und die es in Europa zu etablieren galt. Und man war bereit, den Prozess des Ankommens im eigenen Jahrzehnt (9) massenwirksam zu propagieren.

Das Schlagwort, unter dem die Bemühungen um eine adäquate zeitgemäße Wirklichkeitserfahrung und -darstellung zusammengefasst wurden, hieß "Sachlichkeit". Es wirkte in nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens hinein, von der Wirtschaft über die Wissenschaften hin zur Literatur, von der Architektur über die Malerei, die Musik hin zum Journalismus.

Im Bereich des Journalismus erlangt der Begriff "Sachlichkeit" oder "Neue Sachlichkeit" seine spezifische Kontur, soweit darunter eine Kommunikationsstrategie zur Verankerung gemeinsamer, einheitlicher Erfahrungen und Sinngebungen bezüglich einer bedrohlich ofienen, unüberschaubaren Gegenwart, für den davon betroffenen Rezipienten, verstanden wird. Neue Sachlichkeit kann hier m.E. als der Versuch gelten, eine Medien-und Meinungssituation herzustellen, deren "gesellschaftliche Primärfunktion", wie Niklas Luhmann heute, für den Zustand einer homogenisierten Gesellschaftsstruktur konstatiert, "in der Beteiligung aller an einer gemeinsamen Realität liegt, oder, genauer gesagt, in der Erzeugung einer solchen Unterstellung, die dann als operative Fiktion sich aufzwingt und zur Realität wird" (10).

In diesem Sinne spricht schon 1926 Leo Lania von der "sozialen Funktion" der Reportage und weist vor allem dieser Darstellungsform journalistischer Realitätsvermittlung die Aufgabe zu, eine allgemeingültige Gegenwartserfahrung herzustellen. Sie soll dem sozialen und politischen Alltag die Transparenz verleihen, an der es in Deutschland mangelt. Denn während es in Amerika, schon dadurch, dass "fast jeder erwerbende Mensch in Dutzenden von Berufen tätig ist, eine gemeinsame Basis gibt, auf der sich Arbeiter und Intellektuelle, der Student und der Bankdirektor gleich sicher bewegen, vereinigen sich in Deutschland alle Faktoren dahin, den Einzelnen so in Beruf und Stand einzuschachteln, dass er zu den Dingen, Begebenheiten, Einrichtungen des sozialen Lebens kein - oder bestenfalls nur ein falsches - Verhältnis findet." In Deutschland fehlen dem Einzelnen "durch eigene Erfahrung erworbene Grundbegriffe und Kenntnisse des 'praktischen' nämlich öffentlichen Lebens." Hier, "wo der Begriff des Staates noch immer ganz abstrakt gefaßt wird und die übergroße Mehrheit des Volkes mit politischen und sozialen Fragen keinen lebendigen Sinn verbindet", muß die Reportage die Gleichzeitigkeit der Erfahrungszusammenhänge erzeugen: "Beim Aufbau eines neuen Deutschland sind die Reporter unerläßliche Helfer" (11).

Hinzukommt, dass das Medium der Reportage jenseits jeder funktional gedachten Gleichzeitigkeit, diese strukturell gewissermaßen schon im voraus besaß: "Die Reportage, gleichermaßen wie Fotografie und Film, verschaffte sich ihre emanzipatorische Gleichzeitigkeit aufgrund der expandierenden Publikationsindustrie. Das tägliche Aufeinandertreffen mit dem Adressaten in der Tageszeitung, in der illustrierten Presse oder im Rundfunk und Film verhinderte die Kontemplation statischer Vergewisserung. Wie kein anderes Genre begünstigt die Reportage die Neigung, als Bestandteil täglicher Verrichtung und Gewohnheit akzeptiert zu werden." Und, wie Christian Siegel fortfährt, "indem sie ihr Material beabsichtigt anschaulich und eindeutig anbot, (...) holte sie die Aufmerksamkeit zurück in die Alltäglichkeit" (12). Auch der Erfolg der Fotoreportage basierte auf der fotografischen Entdeckung des Alltags und des Alltagsmenschen.

Der Weimarer Alltag ist dabei durch seine Vielschichtigkeit und zunehmende Komplexität gekennzeichnet, der demokratische Prozess der politischen Willensbildung mag dafür als nur ein Beispiel stehen. Die Ökonomie von Wahrnehmung und Informationsvermittlung zwingt zur Konzentration auf signifikante Motive und Themen. Alle Elemente und Motive der Neuen Sachlichkeit sind Resultat eines umfassenden Prozesses von Typisierung, der im Bereich der Presse, der Unterhaltungsindustrie und des Kulturlebens einsetzt. Die Selbstvermittlung von Gegenwart gerät dabei leicht zur Selbststandardisierung, und die Gefahr, an der konkreten Realität Deutschlands vorbei zu argumentieren - was sich spätestens ab 1929, dem Beginn der Wirtschaftskrise, herausstellte, als die bis dahin verdeckten Widersprüchlichkeiten eben dieser Realität ihre volle Dynamik entwickelten - , bemerkte man zunächst kaum.

Wem diese Widersprüchlichkeiten allerdings bewußt war, der begriff dann in vielen Fällen die Fotografie und die operative, d.h. eingreifende Literatur (13), als spezifische Kommunikations- und Propagandamittel des Proletariats, als Medium revolutionärer Kritïk der bürgerlichen Gesellschaft. Der sah sich dem Klassenkampf verpflichtet. Sein Forum ist die AIZ, die von Willi Münzenberg gegründete, auf ein proletarisches Lesepublikum hin orientierte "Arbeiter-Illustrierte-Zeitung". Bürgerliche Fotoreporter wehrten sich gegen die, nach ihrem Verständnis, manipulativ-propagandistische Verwendung ihres Materials in der AIZ (14), die von ihnen erhoffte Gleichzeitigkeit war nicht die der sozialistischen Gesellschaft.

Das gültige Selbstverständnis des neusachlichen Reporters wurde wohl von Egon Erwin Kisch formuliert, KP-Mitglied und der sozialistischen Sache unbedingt verbunden: gerade in diesem Sachverhalt erweist sich schlagend die Gültigkeit des Programms der Neuen Sachlichkeit. Er schrieb 1925 in der Einleitung zu seinem Bestseller "Der rasende Reporter": "Der Reporter hat keine Tendenz, hat nichts zu rechtfertigen und hat keinen Standpunkt. Er hat unbefangener Zeuge zu sein und unbefangen Zeugenschaft zu liefern (...)", und fährt fort, "nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts exotischer als unsere Umwelt, nichts phantasievoller als die Sachlichkeit. Und nichts Sensationelleres gibt es in der Welt als die Zeit in der man lebt!" (15). So hätte auch jeder Fotoreporter das Anliegen seiner Reportagearbeit beschreiben mögen.

Daß aber die oben geforderte "unbefangene Zeugenschaft" nicht von völlig losgelöster Objektivität sein kann, erweist sich ausgerechnet über die fotografische Begrifflichkeit, derer er sich im weiteren bedient: "Die nachstehenden Zeitaufnahmen sind nicht auf ein mal gemacht worden. Subjekt und Objekt waren (...) in verschiedensten Stimmungen, als die Bilder entstanden, Stellung und Licht waren höchst ungleich. Trotzdem ist nichts zu retouchieren, da das Album heute vorgelegt wird" (16).

Betrachtet man nun die "Zeitaufnahmen" von literarisch journalistischer Reportage und Fotoreportage etwa am Beispiel der "Münchner Illustrierten Presse" (MIP) und den Reportagen in Anthologien, Zeitschriften, Zeitungen und Buchform, so zeigt sich eine deutliche Übereinstimmung in Themen- und Motivkomplexen. Eine Übereinstimmung, die sich aus dem Programm der Neuen Sachlichkeit, signifikant moderne Themen wie Technik, Sport, Großstadt, Alltags- und Arbeitsleben, dic Zerstreuungsangebote der Vergnügungsindustrie in den öffentlichen oder auf Öffentlichkeit gerichteten, Diskurs einzubringen, erklärt (17).

Mit der Wertschätzung von Sachlichkeit ging eine neue, positive Einstellung zum technisch-wissenschaftlichen Fortschritt einher. Waren Industrie und Technik vordem aus der bürgerlichen Kunst und Kultur ausgeschlossen und die Intelligenz von Technikfèindlichkeit geprägt gewesen, führte nun die Bewunderung des Technischen, Maschinellen, rationell Organisierten zu einem regelrechten Technikkult und einer forcicrten Maschinenschwärmerei. Auch der Bildungsbürger schloß nun seinen "Frieden mit Maschinen", wie eine von dem Reporter Heinrich Hauser 1928 im Feuilleton der "Frankfurter Zeitung" erschienene Artikelserie propagierte (18).

Den teilweise recht übersteigerten Erwartungen an die zivilisatorischen Energien von Technik und Industrie, an einen Fortschritt, der bestehende politische und soziale Spannungèn als überholt erscheinen ließe, entsprach deren ästhetische Darstellung. Das Aufnahmeverfahren der Fotografen der Neuen Sachlichkeit zeichnet sich nach Herbert Molderings dadurch aus, so lange zu kippen, zu verkanten, zu richten und manipulieren, bis sich am Ende jede einfache Zweckform, herausgehoben im engbegrenzten Ausschnitt des Fotos, in ein Symhol der Schönheit industriellen Lebens verwandelte (19).

Eine solche Ästhetisierung von Industrie und Technik ist bei der Fotoreportage im allgemeinen nicht zu beobachten. Sie ist hier sehr viel sachlicher. Inwieweit sie nicht nur unter soziokulturellen, sondern auch unter ästhetischen Gesichtspunkten zur Stilrichtung der Neuen Sachlichkeit, wie sie von der Kunstfotografie bekannt ist, zu zählen ist, bleibt daher zu fragen.

Münchner Illustrierte Presse, Jahrgang 1930, Heft 5 Fotograf: Wolfgang Weber

1925 ist, sozusagen termingerecht, die Eröffnung des "Deutschen Museums von Meisterwerken der Naturwissenschatten und Technik" in München. In der MIP findet sich, nach mehreren kleinen Berichten, 1930 eine große Reportage von Wolfgang Weber über "Das Museum, in dem man alles anfassen darf" (20) (Abb. 1). Es werden die ganz andersgearteten, ungewohnten Erfahrungsmöglichkeiten, die der neue Museumstyp bietet, betont: "Hier darf man alles ausprobieren. (...) Dieses Museum kann man lieben wie einen Menschen. Denn zum erstenmal wird die Welt der Technik und Wissenschaft, kunstvoll zerlegt, von einer ganz neuen Seite vorgeführt: von ihren Stimmungswerten." In zwei halbseitig präsentierten Fotografien wird die so geartete Begegnung des Menschen mit der Maschine und der Welt der Technik geschickt dargestellt. Ob es sich um das bäuerliche Paar auf dem eleganten Schiffsdeck handelt, oder den kleinen Jungen vor der riesigen Maschinenapparatur, die Reportage unterstellt: Jedermann interessiert sich für moderne Technik, und sie ist für jedermann von Bedeutung, ohne Unterschied von Stand, Rang oder Bildung. Wie auch in einem "Gruppenbild mit Maschine" das der Technik scheinbar immanente Moment kultureller Gleichzeitigkeit augenfällig wird: "Interessengemeinschaft: Zwei Volksschüler, ein Professor und ein Bankbeamter."

Moderne Technologie und Urbanität gehören zusammen. In der Großstadt stehen die Großbetriebe mit den riesigen Maschinenanlagen, die der Bürger im deutschen Museum bewundert. Hier fahren die Automobile mit den Dieselmotoren, die elektrische Straßenbahn, U- und S-Bahn, hier gibt es Telefon, TeIex, Radio, Licht und Leuchtreklame und Warmwasaerversorgung (21).

In Großbetrieben, Großverlagen, Großbanken, die, wenn Neubauten nötigwerden, im neusachlichen Bauhausstil erstellt werden, arbeitet eine zunehmende Angestelltenschicht, die nach Beendigung ihres 8-Stunden-Arbeitstages nach Möglichkeiten der Freizeitgestaltung verlangt. In der Großstadt finden sie ein breites Angebot von Vergnügungs- und Zerstreuungsstätten, von den traditionellen Kulturstäiten wie Theater und Oper, über Operette, Revue, Kino, Kabarett bis hin zu Renn- und Sportplätzen, Wellenbädern und Freizeitparks.

Die Forderung der Intelligenz, die industriell und technisch bestimmte Wirklichkeit in ihre Rechte einzusetzen, wird zum Anspruch, die Großstadt in ihrer Funktion als Zentrum von Kunst und Kultur, von zivilisatorischem, zeitgenössischem Leben anzuerkennen (22).

In Deutschland galt diese Forderung natürlich Berlin. Berlin wird zum Fluchtpunkt künstlerischer und journalistischer Aufmerksamkeit, zugleich Auslöser solcher Kreativität. Eine Ende der 20er Jahre berühmt gewordene Anthologie zeigt diesen Prozeß auf: Fünfzig Autoren waren versammelt, aber eigentlich war es so: "Hier schreibt Berlin. Die Stadt Berlin schreibt. Die Stadt diktiert" (23). Ihr Tempo, ihr hektisches, lautes und grelles Leben diktiert auch den Rythmus des Dokumentarfilms "Berlin - Sinfonie einer Großstadt" von 1927.

Gerade die visuellen Medien, Film und Fotografie verdanken der Großstadt wertvolle Impulse der ästhetischen Erneuerung. Schon 1903 hatte Georg Simmel in seinem Aufsatz "Die Großstadt und das Geistesleben" auf die wahrnehmungsphysiologischen Konsequenzen des Großstadtbetriebs aufmerksam gemacht: "Die physiologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualität sich erhebt, ist die 'Steigerung des Nervenlebens', die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht."

Wenig später erfuhr man, daß besonders der Film, etwa in den Ruttmann'schen Montagen, geeignet war, "die rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder, den schroffen Abstand innerhalb dessen, was man mit einem Blick umfaßt, die Unerwartetheit sich auf drängender Impressionen" (24), künstlerisch neuartig und beeindruckend darzustellen. Nicht von dieser expressiven Wucht, zeigt der Semi-Dokumentarfilm "Menschen am Sonntag" die Berliner, die Menschen der Großstadt, ganz im Stil der Neuen Sachlichkeit, Studien des Lebens, "so wie es nun einmal ist." (25).

In dieser Haltung nähert sich auch Felix H. Man dem "Wellenbad Lunapark" (26) (Abb. 2). Die "Bilder aus dem großen Berliner Hallenbad" vermitteln in beiläufiger Weise eine Atmosphäre großstädtischer Freizeitkultur. Das Bad ist bis in die Morgenstunden geöffnet, Weltstadtflair dokumentiert "ein Badebild nach Mitternacht": geschminkt, im Badetrikot, an einer Balustrade lehnend unterhält sich eine junge Dame mit einem Paar in eleganter Abendgarderobe.

Wellenbad Lunapark, Münchner Illustrierte Presse Jahrgang 1929, Heft 28 Fotograf: Felix H. Mann

Um diese Tages-, besser Nachtzeit, kann man sich natürlich auch auf dem Ku'damm amüsieren, wie die gleichfalls von Felix H. Man fotografierte Großstadtreportage "Zwischen Mitternacht und Morgengrauen am Kurfürstendamm" (27) (Abb. 3) deutlich macht. Der Bummel durch das nächtliche Berlin ist nicht nur für den Passanten, sondern auch für den Fotografen eine Herausforderung. Handwerklïches Können muß er unter Beweis stellen bei den damals technisch recht schwierigen Nachtaufnahmen. Die intellektuelle Leistung, die ihm abgefordert wird, indem er möglichst viele Seiten dieses Großstädtboulevards, dazu im zeitlichen Verlauf, fotografisch festhalten soll, könnte man auf den Begriff bringen: der Fotoreporter als Flaneur (28).

Im Bereich des Kurfürstendamms findet man die großen Kinopaläste, Nachtlokale, Theater, findet man Zerstreuung. "Kein anderes Wort ist so vollgesogen vom spezifischen Geschmack der (...) zwanziger Jahre - der ersten deutschen Moderne im Breitenmaßstab" (29). Zerstreuung, das bedeutet Massenkultur, Massenmedien, Illustrierte Zeitung, Film, Radio, leichte Unterhaltung, Revue und Kabarett. Bedeutet Diskussionen über Kulturverfall oder die Chance der Demokratisierung von Kultur, ihre neue Zugänglichkeit für bis dato ausgeschlossene Bevölkerungsschichten. Bedeutet vermeintliche kulturelle Gleichzeitigkeit, eine bereits weitgehend homogenisierte Gesellschaft. Etwa wenn Siegfried Kracauer 1926 vom "homogenen Weltstadt-Publikum" Berlins spricht, "das vom Bankdirektor bis zum Handlungsgehilfen, von der Diva bis zur Stenotypistin eines Sinnes ist" (30); eines Sinnes ist in der Bevorzugung bestimmter Attraktionen der Kulturindustrie wie Boxkämpfe, Sechstagerennen, Tanzwettbewerben und -darbietungen, die Künste der Akrobaten, Clowns und Gaukler.

All diesen Attraktionen ist gemeinsam, daß sie weitgehend ohne Worte auskommen, dem Optisch-Akustischen den Vorrang einräumen. Als adäquates mediales Vermittlungsinstrument bietet sich natürlich besonders ihre filmisch-fotogratische Reproduktion an. Erfreut sich nun unter den genannten Zerstreuungsangehoten der Tanz besonderer Beliebtheit, so haben vor allem die "Girls, als sie um 1923 zuerst in Europa bekannter wurden, Sensation gemacht" (31). "Das Ornament der Masse" zieht das Interesse der Intellektuellen auf sich: "Auf dem Gebiet der Körperkultur, die auch die illustrierten Zeitungen bedeckt, ist in der Stille ein Geschmackswandel vor sich gegangen. Mit den Tillergirls hat es begonnen. Diese Produkte der amerikanischen Zerstreuungsfabriken sind keine einzelnen Mädchen mehr, sondern unauflösliche Mädchenkomplexe, deren Bewegungen mathematische Demonstrationen sind" (32). Die Girls sind quasi die sinnliche Verlautbarung des Taylor-Systems, Zeichen der unaufhaltsamen Entzauberung der Gesellschaft durch die kapitalistische Ratio. "Den Beinen der Tillergirls entsprechcn die Hände in der Fabrik" (33). Die Gefahren dieses Prozesses von Nivellierung, Ablösung gewachsener Strukturcn durch moderne rationelle Planung und Setzung, werden in einer wachsenden Anziehungskraft mythischer Irrationalität erkannt.

Im Begleittext der MIP-Reportage über die Jackson-Girls "Eins und Zwei - Die Girls proben" (34) (Abb. 4) wird dagegen allein die Chance der Gleichzeitigkeit betont: "Die Auflehnung, die wir im Zeitalter der Technik gegen die Maschine gelernt haben, gegen die Präzision, diese Auflehnung, diesen Kampf haben die Girls ad absurdum geführt: sie zeigen die Beseelung der Präzision."

In solchem Zusammenhang ist auch die Begeisterung für die perfekt funktionierende "Körpermaschine Sportler" zu sehen. Der Sportler ist geradezu prototypisch für den Menschentypus der Sachlichkeit. Ein stark anwachsender Sportenthusiasmus nimmt in den 20er Jahren Formen an, wie sie bis heute noch hestimmend sind. In Teilbereichen des Sports treten schon Kommerzialisierungserscheinungen auf. Ähnlich Filmstars steigen Sportler wie z.B. Max Schmeling zu Massenidolen auf und erhalten eine gewaltige Publicity in den Medien (35). Gleichzeitig wird der Sport Politikum. Gilt er der Arbeiterbewegung als Mittel zur Stärkung der Solidarität innerhalb ihrer Kampfgemeinschalt, so ist bei der Gründung von Betriebssportgruppen seitens der Industrie, neben gesundheitspolitischen Erwägungen, vor allem Ablenkung von der Gewerkschaftsarbeit intendiert. Auch die "freischwebende Intelligenz" meldet sich zu Wort: "Die großen Gegensätze unserer Zeit: Gegen den Sport - Für den Sport", "Der Sport am Scheideweg", "Die Geistigen und der Sport" (36). Zur Diskussion tragen u.a. bei: Frank Thiess, Egon Erwin Kisch und Bertolt Brecht. Im Vordergrund steht dabei der Sport als Massenphänomen. Als solches entdeckt ihn die Neue Sachlichkeit als ihr Thema. Das Interesse erregen die Sportarten, die die Zuschauermassen in Stadien und Hallen locken, wie Fußball, Boxkampf, Sechstagerennen und Motorsport. Das gilt auch für die MIP: ihre großen, mehrseitig auf gemachten Sportreportagen sind in auffallender Weise diesen Sportarten gewidmet (37).

Neben dem Zeitgeist spielt dabei aber auch ein anderer Grund eine wichtige Rolle. So sehr die Sportfotografie zur Entwicklung der modernen Fotoreportage beigetragen hat, indem sie schon vor dem ersten Weltkrieg mit ersten, ungestellten, am Originalschauplatz aufgenommenen Momentfotografien den Weg wies, so sehr ist sie doch den knappen Treffern, dem gelungenen Einzelbild verpflichtet. In diesen unwiederholbaren Momentaufnahmen feiert sie ihre Triumphe. Jedoch ergeben solche herausragende Einzelfotografien aneinandergereiht noch lange keine Sportreportage. Diese lebt, wie Robert Neumann über die Reportage anmerkt, vom Tatsachenhunger: "Dem Reporter wie dem Reportageleser setzt sich Sachlichkeitsfanatismus alsbald um in Tatsachenhunger. Und so erfährt man schließlich von Napoleon erst in zweiter Linie, daß der die Schlacht bei Waterloo geschlagen hat, und in erster, was er an jenem Tage zum Frühstück zu sich nahm" (38). Die Sportreportage lebt vom Drumherum des eigentlichen Ereignisses, den Begebenheiten im Vorfeld und am Rande. Und wo böte sich größere Gelegenheit zum Sammeln all der Mosaiksteinchen, die die Reportage schließlich ausmachen, als bei den großen Sportveranstaltungen mit Tausenden von Zuschauern, seien sie am Nürburg-Ring, auf der Avus, im Sportpalast oder in Berlin-Mariendort beim nächtlichen Trabrennen?

Daneben bietet etwa das künstliche Licht, das sowohl starke Schlagschatten und kräftige Schwarz/weiß Kontraste hervorbringt, wie auch in anderen Fällen eine diffus-dämmrig erhellte Szenerie schafft, einen idealen Ausgangspunkt für fotografisch hervorragend verwertbare Stimmungen. Stimmungen, in denen die expressiven Momentaufnahmen des Publikums gelingen müssen: die bildliche Manifestation des Sports als gesellschaftliches Ereignis.

In solchen Bildern, z.B. vom Sechstagerennen von Felix H. Man (39) (Abb. 5), zeigt sich der Sport als Teil des Alltags breiter Schichten, sichtlich als dessen herausgehobener Teil. Wie es E.E. Kisch im diskursiven Medium der literarischen Reportage, über die Ironie, vermittelt: "Im Parkett und auf den Tribünen drängt das werktätige Volk von Berlin, Deutsch-Völkisch, Sozialdemokraten, rechts, links, rechts, links, alle Plätze des Sportpalasts sind seit vierzehn Tagen ausverkauft. (...) In Berliner Sportkreisen ist es bekannt, daß sogar unglückliche Ehen durch die Institution der Six Days gemildert sind. Der Pantofelheld kann sechs Tage und sechs Nächste von daheim fortbleiben (...)" (40).

Im Alltag der werktätigen Bevölkerung bedeutet dann aber Berlin vor allem "Stadt der Arbeit". So übertitelt die MIP 1930 eine Reportage Felix H. Mans, die den Versuch einer positiven Würdigung einer modernen durchrationalisierten Fabrikanlage (Siemensstadt) (41) darstellt (Abb. 6). Neben Bildern vom Produktionsprozeß werden vor allem die sozialen Errungenschaften des modernen Großbetriebs gezeigt, wie das Modell einer Werkssiedlung für tausend Familien, das Kindertagesheim für berufstätige Mütter und das Tageserholungsheim für Leichtkranke. Aber die wachsende Wirtschaftskrise dämpft die neusachliche Begeisterung an Taylorismus, Fordismus (42), an rationalisierter Produktion im entpatriarchalisierten Großbetrieb merklich.

Gegen diesen Bericht stehen im gleichen Jahrgang vier Fotoreportagen, die Arbeitslosigkeit und Verelendung zum Thema haben: Etwa über die "Schrippenkirche im Berliner Norden" (43), eine Wärmehalle in einem Hinterhof der Ackerstraße, die im 'roten Wedding' liegt, einem der Proletarierviertel von Berlin. Über diese Straße findet sich 1932 in der MIP eine weitere Reportage, "Ackerstr. 132. Das Leben in einer Mietskaserne, in der über 2500 Menschen wohnen", von Werner Cohnitz (44). Diese Mietskaserne hat nicht weniger als neun Hinterhöfe und stellt in dieser Gegend keinen Einzelfall dar, wie eine ähnliche Reportage in der AIZ, "Mayershof. Eine Stadt in der Stadt" (45), zeigt. Auch der amerikanische Reporter H.B. Knickerbocker berichtet in seinem, mit Fotos von James Abbé illustrierten Buch, "The German Crisis" (46) sehr eindrucksvoll von diesen Elendsquartieren.

1930 erschien auch die Reportage von Neudin über die "Not im Hamburger Hafen" (47) (Abb. 7). Sie zeigt Bilder von einem sogenannten "Arbeitsnachweis". Die Reportage belegt aufs Frappierendste Siegfried Kracauer, wenn er seinerseits in einer Reportage über Arbeitsnachweise schreibt: "Ich habe mehrere Berliner Arbeitsnachweise besucht. Nicht um der Lust des Reporters zu frönen, der gemeinhin mit durchlöchertem Eimer aus dem Leben schöpft, sondern um zu ermessen, welche Stellung die Arbeitslosen faktisch in dem System unserer Gesellschaft einnehmen. Weder die verschiedenen Kommentare zur Erwerbslosenstatistik noch die einschlägigen Parlamentsdebatten geben darüber Auskunft. Sie sind ideologisch gefärbt und rücken die Wirklichkeit in dem einen oder anderen Sinne zurecht, während der Raum des Arbeitsnachweises von der Wirklichkeit selber gestellt ist. Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht" (48).

Dieser Raum tritt in den Fotos zutage: Leicht von oben sieht man in einen relativ begrenzten Raum, der durch mannshohe Holzbegrenzungen in vier Bezirke aufgeteilt ist, wodurch in der Mitte zwei sich kreuzende Gänge freigehalten werden. Hier stellt der "Vize" ein Holzpodest auf, von dem herab er dann die Stellenangebote bzw. Gelegenheitsarbeiten ausruft. Hinter den Begrenzungen sieht man die Arbeiter im wahrsten Sinne des Wortes 'gepfercht'. Nur zwei Fotos genügen, um die Situation klar zum Ausdruck zu bringen. Arbeit zu bekommen ist illusorisch, der Besuch ein Ritual mit dem 'vielleicht doch' als letztem Halt: "Die Erwerbslosen befassen sich im Arbeitsnachweis damit, zu warten. Da im Verhältnis zu ihrer Zahl die der Stellen augenblicklich vernachlässigt werden darf, wird das Warten Selbstzweck. (...) Mir ist nicht eine Örtlichkeit bekannt, in der das Warten so demoralisierend wäre" (49).

Zu solchen Aussagen kommt die MIP nicht. Auffallend ist, daß bei der Mehrzahl dieser Sozialreportagen der Begleittext - nicht unbedingt die Bildunterschrift - die Bildaussage stark abzuschwächen sucht. Auch ist zu vermuten, daß bei der endgültigen Auswahl der zur Veröffentlichung bestimmten Bilder die krassesten Fotos aussortiert wurden. Vergleicht man die Fotografien der Felix H. Man Reportage "Die letzten Weber" (50) mit denen in "Man with camera" (51) gezeigten, so stellt sich heraus, daß sehr viel eindringlicheres Bildmaterial zur Verfügung gestanden hatte als das letztlich publizierte Bildmaterial, das dem in Graf Alexander Stenbock-Fermors Reportagebuch "Deutschland von unten, Reisen durch die proletarische Provinz" (52) gezeigten durchaus standhält. Über dieses Buch schreibt Axel Eggebrecht in der 'Literarischen Welt': "Stenbock hat die Elendsbezirke Deutschlands bereist. Er berichtet furchtbare Dinge, Tatsachen, Einzelheiten, er bringt Beweise, er zitiert, - sein Buch ist eine der sorgfältigsten Reportagen, die wir haben. (...) Zu voller Wirkung kommt sein redlicher Bericht aber erst durch den Vergleich mit den entsetzlich nüchternen Bildern, von deren abgründiger Furchtbarkeit jedes schildernde Wort verblaßt" (53).

Die Bilder, die Stenbocks Reportage illustrieren, stammen weitgehend aus dem "Arbeiterfotograf". In der Verwendung von fotografischem Belegmaterial, von Statistiken, Faksimiles, mitnotierten Gesprächen, Auszügen aus öffentlichen Reden, gewinnen Reportagen wie die Stenbocks u.a. Züge wissenschaftlicher Untersuchungen, kommt die Literatur der Neuen Sachlichkeit mit ihren programmatischen Forderungen durchaus zur Deckung, wie sich andererseits erste soziologische Erhebungen wie Paul Lazarsfelds Studie über "Die Arbeitslosen von Marienthal" (54) auch als Reportage lesen lassen.

Über Deutschland bei der Arbeit zu berichten, bedeutet für den Reporter der 20er Jahre, die Fahrt ins Landesinnere zu unternehmen (55), zur Schwerindustrie an Rhein und Ruhr. Nicht ohne Grund rückt besonders das Ruhrgebiet ins Zentrum der Aufmerksamkeit der neusachlichen Literatur und ihrem spezifischen Instrument der Realitätserfassung, der Reportage. Hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, die gesellschaltliche und politische Wirklichkeit auszuleuchten und literarisch dingfest zu machen, dann mußte die Berichterstattung über das Revier zum eigentlichen Prüfstein werden, inwieweit und wie dieser Anspruch einzulösen war.

Auch die MIP entsendet ihren Fotoreporter Felix H. Man dorthin. 1931 zum Zeitpunkt seiner Reise bedeutet "Herbst an der Ruhr": "Tote Zechen. Tote Hütten" (56) (Abb. 8). "Das Bild, das jeder Reisende, der das Ruhrgebiet in der Nacht durchquerte, für das ganze Leben bewahrte: die riesigen Hütten, die früher in phantastischer Lichtfülle die Umgebung erhellten, stehen heute als dunkle, gigantisch drohende Schatten am Bahndamm; finster und kalt verkünden sie: hier ist Krise, hier ist Arbeitsnot, hier fehlt es an Brot." Im weiteren Verlauf des Berichts werden jedoch die tiefer gehenden Zusammenhänge der Wirtschaftskrise nicht weiter erörtert. Auch eine spätere Reportage, "Stahl an der Ruhr" (57) (Abb. 9), verzichtet auf eine Auseinandersetzung mit den aktuellen politischen und wirtschaftlichen Problemen. Sie nimmt vielmehr die Bilder aus einer Eisengießerei zum Anlaß, den Ruhrkampf in Erinnerung zu rufen. Der Text ist recht willkürlich den Bildern zugesellt. Diese zeigen einzig und allein Aufnahmen verschiedener Arbeitsvorgänge im Inneren der Gießerei. Eisengestänge, Transportbänder, Hängebahn, an der die Transportkessel schweben, die Bühne, auf der die Arbeiter sich bewegen, die ganze Szenerie wird erhellt vom glühenden Stahl und gerinnt zur Silhouette. Sie zeigen nicht, was Erik Reger zur gleichen Zeit dem Fotoreporter gemeinhin unterstellt: "Die Prokuristen weisen sie auf ein sehr interessantes, aber sehr gleichgültiges Röhrensystem in der Fabrik hin, das sogar photographiert werden darf- und so entstehen jene berühmten Bilder, die gigantisch aussehen und einen Dreck darstellen, womöglich mit schrägen Perspektiven. 'Der Gigant an der Ruhr': ein Schornstein, den der Kameramann von unten auf dem Rücken liegend, photographiert hat" (58).

Ihre Ästhetik ist nicht a priori eine Hommage an Eisen, Stahl und Schlote. Sie wählen nicht das Detail, die gewaltsame Perspektive, vielmehr wurde der fotografische Ausschnitt gerne in der sachlichen, neutralen Halbtotalen gesucht, die Perspektive ist die 'klassische Bauchnabelsicht' (Rodcenko). Die Intention der Bilder liegt darin, den Arbeitsvorgang und die damit befassten Menschen darzustellen. Gleichzeitig sind sie von den gewählten Schauplätzen und deren Stimmungsgehalt so ansprechend, daß man mit Kisch sagen könnte: "Wir können auf diesem Prospekt den Weg voll verwirrender Schönheit und bitterer Reflexion rekapitulieren, den wir heute gingen und den alltäglich und allnächtlich das Erz geht und die Arbeit in allen Stadien" (59).

Zumindest stellen sie sich solchen Reflexionen nicht entgegen, vorausgesetzt, man wollte zu ihnen vorstoßen, wie es Kisch unternimmt, in "Stahlwerk in Bochum, vom Hochofen aus gesehen" (60). Die Bilder der Fotoreportagen, darf man wohl konstatieren, lassen in den meisten Fällen genügend Spielraum für Nachdenklichkeit, schaffen Aufmerksamkeiten für einen möglichen Beginn von Reflexion, den dann allerdings der Text weiter vorantreiben müsste.

Das tut er in der MIP nicht. Im Gegenteil stellt sich der Text, vor allem in Reportagen über Technik, Industrie, Alltags- und Arbeitsleben, gegen die Bildaussage, bzw. geht er oftmals an ihr völlig vorbei. Ob damit dem Betrachter, Leser der Fotoreportagen nach Chancen zur Auseinandersetzung mit dem Dargebotenen bleiben, scheint fraglich. Denn das Dilemma des Faktengenres, Fotojournalismus, journalistisch-literarische Reportage, Dokumentarfilm, ist, daß sie, einerseits radikal der Wirklichkeit a prima vista verpflichtet, gleichzeitig in der ihnen eigenen Indiskretion "auf wissenschaftlich fundierte Vermittlung (zielen - B.W.), ohne daß dieser Anspruch zum Fetisch würde. Das setzt einerseits voraus, daß sich Reporter und Fotograf über ihr Material wohlinformiert zeigen, das setzt andererseits voraus, daß Leser und Betrachter die eingeleitete Vermittlung selber vollenden; bleibt dieser Schritt aus, muß das Faktum in den berauschenden Zustand des Sensationellen zurück sinken. In der Tat wird dann das Faktum zur Karikatur, zur Kolportage" (61).

Anmerkungen

1 U. Eskildsen, Fotografie in deutschen Zeitschriften 1924- 1933, Stuttgart 1982, S. 4.

2 Vgl. ebenda; Tim N. Gidal, Deutschland - Beginn des modernen Fotojournalismus, Luzern/Frankfurt a.M. 1972; B. Lohse, Als der Bildjournalismus noch jung war, Camera, Luzern, 55. Jg., Okt. 1976, Heft 10; K. Poht, Die Welt für jedermann, in: Ders. (Hrsg.), Ansichten der Ferne. Reisephotographie 1850 heute, Gießen 1983.

3 S. Kracauer, Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, in: Ders., Schriften 1, Frankfurt a.M. 1981.

4 J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1978, S. 202 ff

5 Zum Vergleich Pressefotografie/Fotojournalismus s. L. Boltanski, Die Rhetorik des Bildes, in: P. Bourdieu u.a., Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt a.M. 1982, S. 138.

6 E. Schütz, Kritik der literarischen Reportage, München 1977, S. 12.

7 Ders. (Hrsg.), Literarische Reportage, Frankfurt a.M. 1979, S. 7.

8 O. Flake, Eine neue Zeit, in: Die Neue Rundschau, 18. Jg., 1927, Heft I, S. 1.

9 H.A. Joachim, Romane aus Amerika, in: Die Neue Rundschau, 21. Jg., 1930, Heft 9, S. 396.

10 N. Luhmann, Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien, in: O. Schatz (Hrsg. ), Die elektronische Revolution.. Wie gefährlich sind die Massenmedien, Graz 1975, S. 29.

11 L. Lania, Reportage als soziale Funktion, in: Die literarische Welt, 2. Jg., 1926, Heft 26, S. 5.

12 Ch. Siegel, Egon Erwin Kisch. Reportage und politischer Journalismus, Bremen 1973, S. 130.

13 s. S. Tretjakow, Die Arbeit des Schriftstellers. Aufsätze, Reportagen, Porträts, Reinbek b. Hamburg 1972.

14 Tim N. Gidal, (Anm. 2), S. 26.

15 E.E. Kisch, Der rasende Reporter, Berlin 1925, Vorwort.

16 Ebenda.

17 s.a. P. Sloterdijk, Kritik der Zynischen Vernunft, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1983, Bd. 2, S. 834 ff

18 H. Hauser, Friede mit Maschinen, Leipzig 1928.

19 H. Molderings, Fotografie in der Weimarer Republik, Stuttgart 1982, S. 23.

20 MIP, 7. Jg., 1930, Heft 5 v. 2. Feb., S. 15S/56.

21 Ein Beispiel fùr die Durchgängigkeit dieser Themen: P. Hindemiths Zeit-Oper 'Hin und Zurück', wo die Heldin Laura eine Arie zum Lob der Warmwasserversorgung singt; vgl. J. Hermand/F. Trommler, Die Kultur von Weimar, München 1978, S. 319.

22 H. Molderings, Überlegungen zur Fotografie der Neuen Sachlichkeit, in: U. Keller/H. Molderings/W. Ranke, Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Lahn-Gießen 1977, S. 70.

23 Hier schreibt Berlin. Ein Dokument der zwanziger Jahre, Neu herausgegeben von H. Günther, München 1963, Vorwort zur ersten Auflage 1929, S. 10.

24 G. Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, in: Klassiker der Soziologie. Eine polemische Auslese von C.W. Mills, Frankfurt a.M. 1966, S. 381 f

25 rororo Filmlexikon, hrsg. v. L.A. Bawden, Reinbek b. Hamburg 1978, Bd. 2, S. 409; s.a. ebenda, 'Menschen am Sonntag' unter dem Stichwort 'Neue Sachlichkeit', S. 454.

26 MIP, 6. Jg., 1929, Heft 28 v. 14. Juli, S. 918/19.

27 MIP, 6. Jg., 1929, Heft 38 v. 22. Sept., S. 1238/39.

28 Zum kulturgeschichtlichen Phänomen Flaneur vgl. W. Benjamin, Gesammelte Schriften VII. Das Passagenwerk, Frankfurt a.M. 1982, S. 524-569; vgl. a. F. Hessel, Spazieren in Berlin, Berlin 1927; Franz Hessel dürfte in Benjamin'schen Kategorien einer der letzten Flaneurs gewesen sein.

29 entfällt.

30 P. Sloterdijk, (Anm. 17), Bd. 1, S. 375.

31 S. Kracauer, Kult der Zerstreuung, in: Ders., Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M. 1963, S. 313.

32 F. Giese, Girlkultur. Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl, München 1925, S. 15.

33 S. Kracauer, Das Ornament der Masse, in: Ders., (Anm. 31), S. 50.

34 Ebenda, S. 54.

35 MIP, 6. Jg., 1929, Heft 17 v. 28. April, S. 566/67.

36 MIP, 6. Jg., 1929, Heft 29 v. 21. Juli, S. 975; MIP, 8. Jg., 1931, Heft 27 v. 5. Juli, S. 861.

37 Die Literarische Welt, 4. Jg., 1928, Heft 1, S. 3, Gegen den Sport von Paul Adler, Für den Sport von Dr. Otto Pölzer; W. Meisel (Hrsg.), Der Sport am Scheideweg, Berlin 1928; P. Thiess, Die Geistigen und der Sport, in: Die Neue Rundschau, 18. Jg., 1927, HeB 3, S. 293.

38 Wobei allerdings Reportagen über Bergsportarten, wie Bergsteigen und Skifahren, noch breiteren Raum einnehmen; das mag u.U. von der Orientierung der MIP auf ihren süddeutschen Abnehmerkreis herrühren.

39 R. Neumann, Zum Problem der Reportage, in: Die Literatur, 30. JK.. 1927/28, S. 4.

40 MIP, 6. Jg., 1929, Heft 46 v. 17. Nov., S. 1547/48.

41 E.E. Kisch, Elliptische Tretmühle, in: Ders., Gesammelte Werke, Berlin/Weimar 1972, Bd. 5, S. 238.

42 MIP, 7. Jg., 1930, Heft 35 v. 31. Aug., S. 1181/82/83.

43 s. H. Lethen, Neue Sachlichkeit 1924-1932. Studien zur Literatur des "Weissen Sozialismus", Stuttgart 1970, S. 20-24.

44 MIP, 7. Jg., 1930, Heft 20 v. 18. Mai, S. 708/09.

45 MIP, 9. Jg., 1932, Heft 41 v. 9. Okt., S. 1119/20/21.

46 AIZ, 1929, Heft 19, S. 5.

47 H.B.Knickerbocker, 'TheGerman Crisis. lllustrated with photographs by James Abbé, New York 1932. S. 9-18. S. 28.

48 MIP, 7. Jg., 19J0, Heft 29 v. 20. Juli, S. 1011.

49 S. Kracauer, Über Arbeitsnachweise, in: Ders., Straßen in Berlin und anderswo, Frankfurt a.M. 1964; S. 69.

50 Ebenda, S. 74.

51 MIP, 7. Jg., 1930, Heft 37 v. 14. Sept., S. 1270/71.

52 Man with Camera. Photographs from seven decades by Felix H. Man, London 1983, o.S.

53 Alexander Graf Stenhock-Permor, Deutschland von unten. Reisen durch die Proletarische Provinz, Stuttgart 1931.

54 A. Eggebrecht, Buch-Chronik der Woche, in: Die Literarische Welt, 7. Jg., 1931. Heft 46, S. 7.

55 Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langdauernder Arbeitslosigkeit, bearbeitet und. hrsg. von der österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle, Leipzig 1933.

56 s. K. Prümm, Expeditionen ins Landesinnere. Das Ruhrgebiet in Reportagen der 20er Jahre, in: Publizistik, 27. Jg., 1982, Heft 3, S. 361-376.

57 MIP, 8. Jg., 1931, Heft 45 v, 8. Nov., S. 1413/14/15.

58 MIP, 9. Jg., 1932. Heft 8 v. 21. Feb., S. 189/90/9l.

59 E. Reger, Reporter im Kohlenpott, in: Die Weltbühne, 26. Jg., 1930, Heft 22, S. 793.

60 E.E. Kisch, Stahlwerk in Bochum, vom Hochofen aus gesehen, in: Ders., Gesammelte Werke, (Anm. 41), Bd. 5, S. 175.

61 Ebenda, S. 175-179.

62 Ch. Siegel, Anm. 121, S. 87.

1984

Brigitte Werneburg

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