Der Kindergarten der Abstraktion

Neues aus den Anfangsgründen der modernen Kunst

Als Alfred H. Barr, der Direktor des Museum of Modern Art in New York, 1936 eine Herleitung von "Cubism and Abstrakt Art" versuchte, zierte ein beeindruckendes Diagramm, das nachgerade die verwirrenden Verwandschaftsverhältnisse im Stammbaum der Windsors zu illustrieren schien, den Umschlag dieser ersten kanonischen Schrift zur Modernen Kunst. Spätere Kunsthistoriker spotteten zwar, daß bei Barr der Fauvismus aus der Verbindung von van Gogh und Gauguin entstand, wie Kochsalz aus der von Natrium und Chlor. Dennoch scheint es so, als ob die Idee einer solchen Genealogie nicht so leicht aufgegeben werden sollte, auch wenn sich jetzt eine ganz andere, interessante Spur auftut. Diese Spur führt zu Friedrich Fröbel und der Erfindung des Kindergartens Mitte des 19. Jahrhunderts. Das berühmte Raster der abstrakten Kunst und der modernen Architektur nämlich, auf das die Avantgarde so unisono zurückgriff, daß sich die elaboriertesten Kunsttheorien daran anknüpfen ließen, könnte auch das Quadratmuster des Tisches sein, an dem die Avantgarde als Kinder gespielt hatte.

Auf diesem Quadratmuster hatte sie die schlichten, unverzierten Holzklötzchen ihres Baukastens arrangiert und mit seinen Würfeln, Dreieckformen und Quadern Häuser, Tempel und Villen gebaut. Mit Hilfe bunter, geometrischer Pappfliesen ließen sich auf diesem Raster Blumenmuster erfinden, ein Windrad legen oder auch abstrakte Muster von rein symmetrischer Schönheit. Wie sich der große amerikanische Architekt Frank Lloyd Wright (1867-1959) erinnerte, prägte sich dieses Raster seinem kindlichen Geist grundlegend ein: "Nachdem wir nach Boston umzogen, als ich drei Jahre alt war, saß ich mehrere Jahre lang an einem kleinen Kindergartentisch, der von waagrechten und senkrechten Linien beherrscht war, die ein Raster von zehn Zentimeter großen Quadraten ergaben." Noch als 90jähriger beschäftigte er sich mit den Ahornbauklötzen seiner Kindergartenzeit, wie er 1957 in seinem Testament bekannte.

Weil freilich nur Frank Lloyd Wright auf seine Fröbel-Erfahrung zu sprechen kam, nahm die Fachwelt diese Quelle zwar zur Kenntnis, allerdings mehr als eine persönliche Marotte. Jetzt entdeckte der Architekt und Sammler Norman Brosterman in ihr aber die Erfahrung einer ganzen Generation. Auch R. Buckminster Fuller (1895-1983) saß an diesem Tisch. Er ging sogar soweit zu sagen, daß er in seinen ersten Kindergartentagen um 1900 schon die Form seiner berühmten geodätische Kuppel fand. Da er schlecht sah, konnte er mit den fein zugespitzten Holzstäbchen der 19. "Spielgabe", nur schwer umgehen. Bei der sogenannten "Erbsenarbeit" verbanden die Kinder diese Stäbchen mit Hilfe weicher Erben miteinander. Während die anderen ohne weiteres rechteckige Strukturen bauten, gelangen Buckminster Fuller nur standfesten Gebilde, wenn er sie aus gleichschenkligen Dreiecken zusammenfügte. "Der Lehrer rief daraufhin die anderen Lehrer, damit sie diese Dreiecksstrukturen sahen. Ich erinnere mich, daß ich überrascht war, zu sehen, daß sie überrascht waren."

Entgegen dem Anschein, den Begriffe wie "Erbsen"- oder "Legearbeiten" wecken, setzte Fröbels Vorschulpädagogik weder auf Arbeiten, noch auf Lernen, sondern allein auf Spielen. Das Kind und sein Spiel waren für ihn eine, fast religiös empfundene, Einheit. Um den "Beschäftigungstrieb" des drei- bis siebenjährigen Kindes zu unterstützen, entwarf er ein Programm mit den Kindern zu singen, zu tanzen und sie der Naturbeobachtung zuzuführen; sie sollten im Garten sähen, und Pflanzen, Muscheln und Kristalle sammeln. Im Zentrum seines Programms standen aber die zwanzig "Spielgaben", streng geometrische Spielelemente aus Holz, Papier und anderen Materialien, mit deren Hilfe die Kinder Strukturen entwickeln konnten, die sich in drei grundlegende Kategorien unterteilten: Formen der Natur und des Lebens, Formen des Wissens und der Mathematik, sowie schließlich Formen der Schönheit und der Kunst. Dabei konnte ein Sessel, der aus acht Würfeln gebaut war, auch nur die Zahl Acht bedeuten, oder in einen Turm verwandelt werden, und so fort.

Was sich mit diesen Spielgaben allerdings niemals herstellen ließ, waren Kunst- und Architekturformen des 19. Jahrhunderts. Dazu waren sie zu puristisch, zu abstrakt und zu minimalistisch. Sie reproduzierten nicht die ästhetischen, sondern die wissenschaftlichen Formen ihrer Zeit, nämlich die der mathematisierten Kristallographie. Im gedanklichen und konkreten Zusammenspiel ihrer Gestalten sollten sie damit alle denkbaren Formen und Dinge symbolisieren.

Seine pädagogische Berufung erklärte sich Friedrich Fröbel, der auf ziemlich verschlungenen Wegen zum Erfinder des Kindergartens wurde, im Rückblick durch biographische Umstände. 1782 in ein protestantisches Pastorenhaus in Thüringen geboren, verlor er bald darauf seine Mutter und wuchs als vernachlässigtes Kind auf, das seine Zuflucht im Garten und der Natur fand. Zunächst als Forstmann ausgebildet, studierte Fröbel später Mathematik in Jena. 1805 ging er nach Frankfurt um sich als Architekt niederzulassen, nahm dort aber eine Stelle als Lehrer an der sogenannten "Musterschule" an, die im Sinne der Pädagogik Heinrich Pestalozzis geführt wurde, den er 1805 und 1808 in Yverdon besuchte. Bevor Fröbel 1813 unter der Führung von Turnvater Jahn in das Freikorps Lützow eintrat, studierte er erneut in Göttingen Chemie und Mineralogie. Nach Ende der Befreiungskriege erhielt er eine Assistenz am Mineralogischen Museum bei Christian Samuel Weiss, einem der Gründungsprofessoren der Berliner Universität. Weiss beschäftigte sich mit der mathematisch-theoretischen Behandlung der Kristallflächen, entwickelte eine Systematik der Kristallgestalten und formulierte 1816 das kristallographische Grundgesetz von der Rationalität der Achsenabschnitte. Im gleichen Jahr erhielt Fröbel einen Ruf als Professor für Mineralogie an die Universität Kopenhagen, den er aber ablehnte, um seine erste "allgemeine deutsche Erziehungsanstalt" zu gründen. 1837 schließlich eröffnet er in Blankenburg in Thüringen eine "Anstalt zur Pflege des Beschäftigungstriebes für Kindheit und Jugend", kurz, den ersten Kindergarten der Welt. Da aber Fröbels Familie und Schüler in der Revolution von 1848 involviert waren erging 1851, ein Jahr vor Fröbels Tod, in Preußen ein Verbot aller Kindergärten.

Die ersten Fröbel-Anhänger waren somit gezwungen nach 1851 ins Ausland zu emigrieren, wo sie, etwa in England, erneut Kindergärten gründeten. Und obgleich das Verbot schon 1860 wieder aufgehoben wurde, blieb der Kindergarten in Deutschland bis Anfang des 20. Jahrhunderts eine Angelegenheit liberaler und jüdischer Privatschulen. Italien, Belgien und Österreich wie die französischsprachigen Schweizer Kantone integrierten dagegen den Fröbel-Kindergarten schon Anfang der 70er Jahre in ihr öffentliches Schulsystem. In Nordamerika war es die Stadt St. Louis, die den Kindergarten 1873 offiziell in ihr Schulwesen eingliederte. In Japan öffnete der erste Fröbel-Kindergarten 1876 in Tokio. Auch in Frankreich verwandelten sich die mit der industriellen Revolution entstandenen salles d'asile dank der méthode froebelienne aus reinen Verwahreinrichtungen für die Unterschichtskinder in die pädagogisch reformierten école maternelle. Dabei zeigten dann die französischen Kindergartentische kein durchgehendes Liniengitter mehr auf, sondern jedes Kind hatte sein eigenes, kleines Raster vor sich.

Entsprechend dieser Erfolgsgeschichte saßen am Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur Wright und Fuller, sondern auch Georges Braque (1882-1963) und Piet Mondrian (1872-1944) an diesem Tisch. Auch wenn es kein persönliches Zeugnis gibt, muß Mondrian spätestens in seiner Ausbildung zum Lehrer mit der Kindergarten-Pädagogik Fröbels in Berührung gekommen sein, da sie zu dieser Zeit in Holland schon verbindlicher Teil der Lehrerausbildung war. Wassily Kandinsky (1866-1944) wiederum erinnert sich an seinen ersten Kindergartenweg in Florenz. Hier hatte auf Bitten des italienischen Erziehungsministers Cesare Correntini Fröbels wichtigste Förderin und Schülerin Berta Baronin von Mahrenholtz-Bülow 1871 einen strikt nach Fröbel organisierten Kindergarten eröffnet und Lehrpersonal ausgebildet. Während in der Schweiz Charles-Edouard Jeanneret (1887-1965), besser als Le Corbusier bekannt, schon von den ersten Absolventen der Ecole Normal Froebelien Neuchatel betreut wurde, hatte Paul Klee (1879-1940) zuvor in Bern den Kindergarten besucht. Johannes Itten (1882-1967) war, bevor ihn Gropius ans Bauhaus in Weimar holte, Kindergärtner in Wien. Gropius selbst wurde 1924 damit beauftragt einen Gebäudekomplex aus Kindergarten, Ausbildungs- und Forschungzentrum zu entwerfen, als "nationales Denkmal für den großen Freund der Kinder und Erzieher der Menschheit" Friedrich Fröbel. Obwohl diese Bauten anläßlich dessen 75. Todestages in Bad Liebenstein nicht gebaut wurde, zeigen Gropius' Pläne - aus Fröbels Erziehungsprogramm hergeleitete - architektonische Charakteristika, die ein Jahr später in der neuen Bauhausanlage in Dessau ihre Verwirklichung fanden.

Nach Frank Lloyd Wright lag das Verdienst von Fröbels System darin, das Empfinden des Kindes für die "rhythmische Struktur der Natur" zu wecken, also in alle Dinge einen modularen Aufbau hineinzuprojizieren: "Ich wurde schnell für die konstruktiven Muster empfänglich, die ich in allem, was ich sah, entdeckte." Das führte denn auch dazu, daß Wright nicht daran interessiert war, nach der Natur zu zeichnen. Was ihn interessierte, läßt sich nur im Englischen wiedergeben: "I wanted to design."

Und wie modernes Design sehen die Papierflechtarbeiten der Kindergartenschüler im späten 19. Jahrhundert auch aus, die Norman Brosterman gesammelt hat. Die Ähnlichkeit zwischen einer Komposition aus roten, blauen und schwarzen Papierstreifen, die ein unbekanntes Kind um 1890 gemacht hat und Mondrians Gemälde aus roten, gelben und schwarzen Linien "New York City III" (1940) sind verblüffend und geben dem bekannten Ausruf der Verächter moderner Kunst, "meine Fünfjährige könnte das gemacht haben" eine ungeahnte Wendung. Betrachtet man die aus dreieckigen Pappfliesen gelegte menschliche Figur, die die Kinder auch aus zu Dreicken gefaltenem Papier herstellen konnten, neben einem Portrait von Juan Gris von 1912, oder vergleicht man wiederum Mondrians "Composition 10 in Black and White" von 1915 mit den ersten zweiten Seiten des Buches "Zum Nachzeichnen für Kinder" von 1830, dann erscheint fast unglaublich, daß bis heute niemand diese Ähnlichkeiten sah. Entsprechend pikiert fallen die Reaktionen der Kunst- und Architekturhistoriker auf die Veröffentlichung von Norman Brostermans Buch "Inventing Kindergarten" aus. Dem Chefkurator des Museum Of Modern Art, Kirk Varnedoe erscheint die Idee, "daß ein so früher Eindruck die Produktion des erwachsenen Künstlers beeinflussen sollte, als eine sehr engstirnige Art über Kreativität nachzudenken", zitiert ihn die New York Times. Das mutet seltsam an, wo Sigmund Freuds Abhandlung über Leonardo gerne zitiert, und seine Theorien weithin auf die künstlerische Produktion angewandt werden. Richtig beleidigt ist der Architekturhistoriker David DeLong, der nicht versteht, "warum Historiker immer versuchen, das Genie auf mindere Ursachen zurück zuführen." Vielleicht ist es ja eher so, daß sich das "Genie" dadurch auszeichnet, daß es sich mindere Ursachen zunutze machen kann. Schließlich ging Fröbels Erziehung zur Abstraktion an anderen Kinder spurlos vorüber. Denn auch mancher historisierende Architekt hatte den Kindergarten besucht. Für den Fall einer Geschichte des Formalismus im 20. Jahrhundert, die ja nicht nur Kunst und Architektur beträfe, muß man den Kindergarten jedenfalls in Betracht ziehen.

5. Juli 1997

Brigitte Werneburg

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