"Material ist alles": Ein Gespräch mit Tony Cragg

In Wuppertal hat der Turner-Preisträger und mehrfache Documenta-Teilnehmer 2006 eine Villa erworben, in deren weitläufigem Garten er einen Skulpturenpark plant

? Unter den Tausenden von Dingen, die jeden Tag hergestellt werden, sind auch Kunstobjekte. Fallen Gemälde, Videos, Fotografien, bildhauerische Installationen und Skulpturen noch auf? Oder werden sie inzwischen als normales Produkt eines zunehmend prosperierenden Marktes betrachtet?

! Ich denke, Kunst zu schaffen, ist immer noch eine sehr seltene menschliche Aktivität. Vielleicht irritiert es deshalb, dass sie einen Preis hat. Im Grunde genommen ist die Wertschöpfung der Kunst keine riesige Angelegenheit. Kunst ist nie Massenproduktion. Es geht um die individuelle Auseinandersetzung des Künstlers mit einer selbstgestellten Aufgabe. Ein Bild zu malen kann man nicht mit der Herstellung von Kunststoffflaschen vergleichen.

? Was heißt das für Sie als Bildhauer?

! Nun ja, nehmen Sie, sofern es das gibt, das durchschnittliche Straßenbild: Autos, Busse, Lastwagen, dann die Teerflächen und Bordsteine, die Telefonzellen, Lampen, Reklamen und Straßenschilder, die überall in gleicher Weise zu finden sind. Das ergibt eine Alltagsrealität, deren Form Ausdruck einer ökonomischen Zweckrationalität ist. Der bequemste und wirtschaftlichste Ausstoß hat die größten Überlebenschancen, um die normale Dingwelt mit Darwin zu betrachten. Die Bildhauerei, die eminent unnütz ist, macht deutlich, dass es um diese Zweckrationalität nicht geht. Sie führt zu einer Verarmung der Formen, deren Möglichkeiten die Bildhauer ja deutlich machen müssen.

? Aber andere Bildhauer geben in ihren Objekten schon existente Dinge wieder. Warum müssen Ihre Plastiken und Skulpturen Formen aufweisen, die nur Dank Tony Cragg überhaupt in die Welt kommen?

! Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war Bildhauerei ausschließlich repräsentativ. Nur Dank der Arbeit anderer Bildhauer und Künstler über den Zeitraum der letzten 100 Jahre hat man andere Möglichkeiten entdeckt als die der figurativen, in traditionellen Materialien wie Stein und Metall angefertigten Skulptur. Daher wurde Bildhauerei schließlich als "Denken mit Material" wahrgenommen. Nimmt man diesen Ansatz ernst, muss man nicht mehr nur über die Figur nachdenken, oder das, was schon existiert. Man denkt irgendwann über das nach, was noch nicht existiert. Das fängt in jedem Fall mit Rodin an. Die Kunst hat die Möglichkeit ergriffen, eine ganz neue Sprache und ganz neue Formerlebnisse zu schaffen.

? Aber denkt man an die übergroßen Hamburger von Claes Oldenburg oder die Kitschobjekte von Jeff Koons, dann zeigt sich, dass schon vorhandene Objekte und Figuren die Pop Art und die Kunst der Postmoderne durchaus wieder interessierten. Da muss es doch eine Entscheidung von Ihrer Seite gegeben haben?

! Auf jeden Fall. Die Sprache des real existierenden Objekts zu übernehmen und sie nur zu modifizieren, ist einfach nicht mein Thema. Bei Claes Oldenburg handelt es sich um einen Künstler, der zu einer Zeit gearbeitet hat, in der das Industrieprodukt, das kommerzielle Konsumprodukt noch nicht in den Bereich der Kunst eingedrungen war. Als die Vertreter der Pop Art populäre Produkte wie den Hamburger aus ihrem kommerziellen Kontext herausnahmen, haben sie das assoziative Umfeld des Industrieprodukts bearbeitet. Es war eine völlig legitime Entscheidung am physischen Objekt, zum Beispiel an der Suppendose, zu zeigen, dass auch dieses Objekt seine eigene Erotik hat und als Metapher zum Stand der Dinge taugt. Darüber hinaus gibt es immer Gründe wieder zur Figuration zurückzukehren. Wobei sich dieser Schritt gar nicht nur von der Figur ableitet, sondern von dem Kontext, in dem die Figur erscheint, wenn es dem Künstler zum Beispiel um ein sozial-politisches Anliegen geht. Dass man, aus ganz unterschiedlichen Gründen, in seiner eigenen Zeit die Figur noch einmal aufsucht, ist eigentlich selbstverständlich.

? Ihre aus der Achse gedrehten Skulpturen wie Line of Thought (2002), The Fanatics (2006) oder Point of View (2005) erinnern an die barocke Kunst der katholischen Gegenreformation. Ist die Assoziation an Berninis Papstaltar im Petersdom mit seinen absonderlich gedrehten, ganz und gar unklassischen Säulen falsch?

! So habe ich das nie gesehen. Dieser Altar ist ja zunächst einmal eine unheimlich starke physische Erfindung. Damals gab es ja entweder die Architektur oder die Bildhauerei mit der Figur. Berninis Versuch eine strukturelle, auf geometrischer Basis entwickelte Form zu schaffen, die weder nur Architektur noch Figur ist, finde ich für diese Zeit eine wahnsinnige Sache, die mich auch sehr interessiert. Aber ich könnte nicht sagen, dass ich davon in meiner Arbeit beeinflusst worden wäre. Es geht mir darum, den Formenreichtum wieder zu entdecken. Ich finde, dass die Bildhauerei dafür eine absolut gute Methode darstellt.

? Ein Bereich, in dem Formenreichtum noch einen Wert in sich darstellt, in dem es um dreidimensionale Formen geht, die nicht nützlich zu machen sind, ist die Haute Couture. Die Kleider werden hier nicht primär auf Tragbarkeit hin entworfen, sondern es geht um die raffinierte, auffällige und ungewöhnliche Behandlung des Schnitts und des Materials ...

! Nun ja, Sie werden wenig Künstler finden, die den Vergleich mit der Mode schätzen. Für mich sind die Themen, die meine Arbeit bestimmen, die Beziehung zwischen Mensch und Natur. Wie wir die Natur nutzen. Wie weit wir noch Natur sind. Und wenn man die Natur betrachtet, dann ist die Palette der Formen noch immer sagenhaft, unendlich groß und wir können hier noch immer sehr viele Formen übernehmen. Die Qualität der von uns hergestellten Materialien ist ein weiteres Thema. Und ich finde, ein wichtiges Thema ist die immer größer werdende Informationsmenge, mit der wir es zu tun haben und die keine wahrnehmbare Realität mehr hat. Wir kennen nun Viren, Moleküle, Quarks usw. Wie entwickeln wir eine Bildsprache dafür? Wie muss ich mir einen Virus vorstellen? Wie sehen Gesellschaftsstrukturen aus? Dafür Formen zu entdecken, betrachte ich als radikale, politische und gesellschaftliche Haltung. Wenn man etwas nicht mag, kann man es zu ändern versuchen, eine Alternative vorschlagen. Politische Agitation allerdings interessiert mich nicht. Trotzdem kann man die Frage, welche Form die Zukunft hat, nicht nur den Geschäftsleuten und Politikern überlassen. - Da muss man dann doch agitieren.

? Vielleicht mit einer Skulptur, wie sie sich in der Sammlung der Deutschen Bank in London befindet? Was ist das Besondere an Secretion?

! Einige Zeit bevor ich die Arbeit gemacht habe, sah ich die Würfel in einem Spielwarenladen. Es handelte sich um eine große Tüte mit vielleicht 20 bis 30 Würfeln, die mich als Material plötzlich reizten. Das sah wie eine sehr interessante Masse aus. Das Material war künstlich hergestellt, Thermoplastik, im Fall der Würfel ein Ersatz für das natürliche Material Elfenbein. Ich bin ein Materialist. Material ist alles. Meine Intelligenz, meine Emotionen sind Phänomene des Materials, so begreife ich das. Das Material kann so wundervoll und komplex und erhaben sein, dass es keinen Grund gibt, einen solchen Materialismus abzuwerten. Ich möchte Verantwortung übernehmen, moralisch handeln, nicht aus Angst vor einem höheren Wesen, sondern aufgrund der Wertigkeit des Materials. Ich fand, die Würfel boten eine interessante Möglichkeit, der Oberfläche eine besondere Wertigkeit zu geben.

? Betrachtet man die hochpolierten, sehr attraktiven Oberflächen einiger Ihrer Skulpturen, heißt das dann, dieser Stahl verlangt nach Glanz?

! Von allen Materialien ist er derjenige mit dem Glamoureffekt. Am Hochglanz ist aber eigentlich nur interessant, dass er die Umwelt, seinen Kontext reflektiert. Steht er im Wald, wird er grün. Die Haut einer Edelstahlskulptur ist selbsttragend. Man kann Formen schaffen, die man in einem anderen Material auch nicht hin bekommt. In Bronze bedürfte das einer Innenkonstruktion. Das gehört zu den Materialnotwenigkeiten der Bildhauerei.

? Sie planen, einen Skulpturenpark in Wuppertal zu schaffen. Ist ein Garten oder ein Park nicht auch eine Art Skulptur?

! Nein. Ein Park ist Natur, die der Mensch ein bisschen manipuliert hat. Das mag skulpturale Qualitäten haben. Aber unter mein Verständnis von Skulptur fällt der Park nicht.

? Was meinen Sie damit?

! Die Skulptur hat sich in den letzten Jahren wahnsinnig entwickelt. Im Gegensatz zu ihrem Image, das Skulptur als statisch und tot beschreibt, hat sie eine unglaubliche Dynamik gewonnen. Wenn Menschen eine Skulptur betrachten, wird sie sowieso dynamisch. Sie steht zwar still. Aber wir sind nicht still. Wir gehen um die Skulptur herum und erleben wie sich die Konturen, die Oberflächen und Volumen ändern. Und bei jeder Änderung registrieren wir andere Emotionen und andere Ideen. Diesen Umgang möchte ich relativ kontextfrei haben. Ich will keine Arbeit für eine alte Kirche in Nordengland oder für eine Ausstellung machen. Ich will die Dinge hier im Atelier machen. Wenn sie dann aus der Tür gehen, sind sie mehr oder weniger vollkommen. Das Ding existiert, es geht aus der Tür und muss sich seinen Platz in der Welt erstreiten. Es ist nicht für eine besondere Situation entwickelt worden.

? Aber das Haus, das Sie in Wuppertal gekauft haben, böte die Chance, einen Kontext für Ihre Skulpturen zu entwerfen. Und das obwohl Sie Ihre Skulpturen ja gerade nicht für einen Kontext schaffen.

! Ein wenig, ja. Aber der Hintergrund ist der Folgende. Ich finde die Landschaft hier sehr schön, das Bergische Land. Und wenn Sie aus meinem Atelier schauen, sehen Sie sehr schöne Wiesen. Und ich habe lange gedacht, auf diese Wiese hier würde ich gerne eine Skulptur stellen. Und dann vielleicht ein paar hundert Meter weiter, auf die nächste Wiese eine weitere Skulptur. Wie man es kennt vom West Yorkshire Sculpture Garden in Nordengland. Diese Idee entpuppte sich als eine ziemlich komplizierte Angelegenheit, bei der man sich mit den ganzen Leuten und Ämtern arrangieren muss. So kam ich zu der Auffassung, ich sollte mir selbst ein Areal kaufen. Als ich einen Freund fragte, ob er nicht danach Ausschau halten könnte, habe ich gar nicht daran gedacht, dass es ein so spezielles und wunderschönes Anwesen sein würde.

? Es gehörte dem Lackfabrikanten Herberts, der während der Nazizeit Willi Baumeister und Oskar Schlemmer in seinem Unternehmen beschäftigte und schützte.

! Ja, Waldfrieden, so heißt das Anwesen, hat eine Geschichte, die auch eine gewisse Verantwortung mit sich bringt. Ich sehe es nicht als ein Museum. Und daher sehe ich auch keine Situation, die eine große Eröffnung verlangt. Ich hoffe, dass wir in einem Jahr, im April 2008 leise die Türen aufmachen können, und dann wird es sich schon lohnen, vorbeizuschauen. Ich mache das als Privatmensch, mit Hilfe einer Stiftung, die ich mit meiner Frau gegründet habe. Ich möchte das über viele Jahre hin entwickeln. Und wenn es in einem Jahr schon etwas zu sehen gibt, freue ich mich natürlich darüber.

11. Juni 2007

Interview: Brigitte Werneburg

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